Heute wird bestimmt ein ganz doofer Tag. Auf dem Weg nach Süden verlasse ich Schottland und muss durch Edinburgh fahren. Wälder, Einsamkeit, das Alleinreisen, Zelten, alles das macht mir nichts aus, aber Großstädte mit ihrem dichten Verkehr und den vielen Menschen machen mir Angst.
Es gibt an der Ostküste partout keine sinnvolle Umfahrung von Edinburgh, denn an dieser Stelle ist das schottische Festland nur 75 km breit und ausgerechnet dort liegen die beiden größten Städte des Landes.
Vor zwei Wochen habe ich Glasgow elegant an der Westküste mit der Fähre über Dunoon umfahren. Heute aber muss ich die Autobahn M90 um Edinburgh herum nehmen.
Autobahnen sind kein Vergnügen auf der Green Cow, dort fühle ich mich verlorener als alleine in den Highlands. Zum Glück darf man in Großbritannien auf dem Motorway nicht schneller als 70 mph (113 km/h) fahren und bei der Geschwindigkeit kann ich auf der 250er Enduro gut mithalten. Hoffentlich verfahre ich mich nicht. Autobahnkreuze finde ich total verwirrend und wenn man nur einmal falsch abbiegt, landet man gleich im Sonstwo.
Zuerst einmal steht mir aber noch ein ganz wunderschönes Stück Schottland bevor. Ich habe das Lager schon früh abgebrochen und fahre über die alte Steinbrücke in Ballater nach rechts in den Wald hinein. Der schmale asphaltierte Weg führt am River Dee entlang nach acht Meilen direkt zum Haupttor von Balmoral Castle. Vielleicht mache ich eine Schlossbesichtigung, jetzt da ich dort schon jemanden kenne und irgendwie fast zur Familie gehöre...
Es ist kurz vor neun, als ich mutterseelenallein vor dem hübschen, aber leider verschlossenen Tor von Balmoral Castle stehe und die prunkvollen Wappen am Tor bewundere. Kein Mensch ist zu sehen und das Tor ist fest verschlossen. Wo sind die denn alle? Ob die schon zum Mittag sind?
Auf einem Schild lese ich, dass erst ab 10 Uhr Einlass gewährt wird. Schade, Königs schlafen wohl noch, oder sitzen gerade im Bademantel beim Frühstück. Ich weiß ja nicht einmal, ob Ian schon von uns erzählt hat und vorher möchte ich lieber nicht nach dem Beutel Venison auf meiner Gepäckrolle gefragt werden. Also drücke ich nur kurz auf die Hupe, winke fröhlich in Richtung der Überwachungskameras und fahre weiter.
Auf einem Hochplateau, so ungefähr an der kältesten Stelle des Morgens, erreiche ich das Glenshee Ski Centre, eine Bergstation mit Skiliften, Shops und einem großen Restaurant. Neben der Station stehen mehrere Schneekanonen und Pistenbullies, die dort verlassen auf die nächste Skisaison warten.
Ich stelle das Motorrad ab und gehe zur Eingangstür des Restaurants. Hoffentlich haben die überhaupt schon auf, in England scheint man nämlich lange zu schlafen, und noch hoffentlicher ist da drin geheizt.
Ja, das Restaurant ist schon geöffnet, aber nur ein paar Arbeiter der Bergstation sitzen gemeinsam beim Frühstück, ansonsten ist der große Saal verlassen. Die Jungs schauen kurz hoch, nicken mir einen knappen Gruß zu und widmen sich wieder ihrem Frühstück.
Ich nehme ein Plastiktablett vom Stapel und stelle es auf den langen Tresen aus Edelstahl. Interessiert mustere ich die große Speisekarte an der Wand. Ich entscheide mich für eine Bacon Roll und einen Pott heißen Kaffee. Leider ist niemand in Sicht, bei dem ich meine Bestellung loswerden könnte. Einer der Arbeiter bemerkt meinen verlorenen Blick und verschwindet nach hinten in die Küche, um jemanden zu holen.
Kurz darauf liegen zwei dicke Scheiben Bacon auf dem Rost und knuspern appetitlich vor sich hin, während mir die freundliche Bedienung einen Becher Kaffee einschenkt. Wie immer schmeckt er einen Hauch nach Schokolade.
Die Preise verblüffen mich stets aufs Neue. Für die Bacon Roll, ein geröstetes Brötchen mit zwei fetten, gebratenen Scheiben Speck darin, zahle ich nur 1,55 £, ca. 1,75 €. Das wäre in einem Ausflugsrestaurant in Deutschland sicher nicht viel billiger.
Allmählich taue ich wieder auf. Es ist ein wunderschöner, sonniger Tag aber sicher deutlich unter 10° C. Mit all meiner Willenskraft gelingt es mir, auf dem Weg nach draußen am Tresen vorbeizugehen, ohne eine weitere Bacon Roll zu bestellen. Ich kann so hart gegen mich selbst sein. Außerdem möchte ich lieber woanders noch etwas essen, denn die riesige verlassene Bergstation erinnert mich doch sehr an The Shining.
Die Route durch den Cairngorms National Park ist für Motorradfahrer eine echte Herausforderung. Auf ungezählten Warntafeln wird vor gefährlichen Kurven gewarnt und tatsächlich sind die oft unerwartet eng und schwierig zu fahren. Der Asphalt ist brüchig und mitunter bin ich bei 50 km/h schon an der Grenze meiner Fähigkeiten angelangt. Kurvenfahren ist nicht gerade meine stärkste Seite.
Als ich nach Blairgowrie komme, entdecke ich am Straßenrand einen McDonalds. Allerdings nicht den bekannten Plastikwirt aus Amerika, sondern einen total urigen, kleinen Käseladen, den McDonald's Cheese Shop. Ich stelle das Motorrad davor ab und gehe hinein.
Das kleine Geschäft ist an allen Seiten bis hoch unter die Decke vollgestopft mit Spezialitäten aus der Region. Im Mittelpunkt des Ladens aber steht die kleine Käsetheke.
Der Mann, der mich bedient, ist vielleicht nicht der freundlichste, aber gerade noch ok. Vielleicht gehe ich ihm auch einfach auf den Wecker mit meiner aufgeregten Fragerei, dem vielen Lob für seinen hübschen Laden und meiner Bitte, im Laden ein paar Fotos machen zu dürfen.
Einerlei, die Cheddar Cheese Roll und der Filterkaffee schmecken prima. Ich stelle mich damit nach draußen und benutze die Sitzbank der Green Cow als Picknicktisch.
Hinter Perth ist die schöne Strecke vorbei und ich fahre auf die M90 in Richtung Süden. Für mich ist Schottland hier zuende, auch wenn ich die Grenze nach England noch nicht überquert habe. Mit konstant 120 km/h fahre ich auf der linken Spur und schere nur ab und zu aus, um einen LKW zu überholen. Trucks dürfen hier deutlich schneller fahren als in Deutschland.
Von hinten schließt ein Superbike zu mir auf. Aggressiver Vierzylindersound mit Akrapovic, irgendeine GSX. Darauf ein Knieschleifer in blauweißer Lederkombi, der einen geradezu grotesk überdimensionierten Trekkingrucksack auf dem Rücken trägt. Er lenkt seine Suzuki neben mich und gibt mir Zeichen anzuhalten. Wiederwillig halte ich auf den schmalen Standstreifen an der Leitplanke, während der Verkehr dreispurig an uns vorbeizischt. Was will der Typ?
Soweit ich es bei dem Lärm der Motoren mit aufgesetztem Helm verstehen kann, heißt er Michael und ist auf dem Rückweg nach Irland. Er hat in Schottland auf Montage gearbeitet. Ob wir ab jetzt zusammen fahren wollen, fragt er mich.
Nein, wollen wir nicht. Das ist ein Meisenkaiser denke ich und antworte etwas unhöflich: "No. I'd rather drive allone." Mit einem kurzen Nicken beende ich das Gespräch und fädele mich blitzschnell in den fließenden Verkehr ein. 1.2.3.4.5.6. Gang und weg bin ich.
Leider ist seine GSX-R1000 im zweiten Gang schneller als meine Green Cow im sechsten und ein OffRoad Gelände, wo ich den Penner abhängen könnte, gibt es auf der Autobahn nicht. Das muss ich anders regeln: Ich hänge mich hinter einen LKW und fahre provozierend immer langsamer, aber der Typ lässt sich dadurch nicht entmutigen und bleibt treu hinter.
Ok, Plan B: Tankstelle, anhalten und verkloppen. Der ist kleiner als ich und außerdem hatte ich heute schon eine Bacon Roll. Vorher aber muss ich erst einmal durch das dichte Gewirr aus Motorways, Abzweigungen und Knotenpunkten rund um Edinburgh navigieren.
Puh, ist das ein Verkehr hier. Ein Königreich für eine Single Track Road. Einmal verfahre ich mich an einer Ausfahrt, aber mein blauweißer Schatten fährt stur jedes meiner Manöver mit. Wenn ich anhalte, um auf die Karte zu gucken, dann hält er auch an und wenn ich wende, dann wendet er auch. Ich habe einen Freund fürs Leben gefunden.
Als wir endlich aus dem Großstadtverkehr heraus sind, fahre ich in Penicuick auf eine Tankstelle und fülle fünf Liter von dem guten Momentum 99, der Premiummarke von Tesco, in den Tank der Green Cow. Anschließend schiebe ich die Kawa auf den Platz vor dem Luftdruckprüfer und warte auf Hein Daddel. Jetzt will ich endlich wissen, was der will.
Als erstes fällt mir auf, dass Michael schlechter Englisch spricht als ich, denn auch wenn er in Irland wohnt, so hat er doch einen polnischen Pass. Es stellt sich heraus, dass er sich nur deshalb an mich angehängt hat, um sich durch Edinburgh lotsen zu lassen. Ausgerechnet an mich, das blindeste Huhn diesseits von TomTom und Generalkarte. Nach dem Tanken verabschieden wir uns, doch nicht bevor ich ihm noch haarklein den Weg nach London erklärt habe. Ich bin fast ein wenig gerührt über soviel Vertrauen.
Als Tagesziel für heute habe ich mir Peebles ausgedacht. In einem kleinen CoOp mitten im Ort besorge ich mir Wasser, Bier und Bohnen. Mehr brauche ich nicht, denn Fleisch habe ich schon an Bord. Inzwischen sollte es aufgetaut sein, heute abend gibts Wild.
Am Ortsrand von Peebles liegt der Rosetta Holiday Park, wo ein Schlossherr seinen schönen Landsitz in einen großen Campingpark verwandelt hat. Sogar eine alte Burganlage steht auf dem Gelände, das von einer hohen Burgmauer umschlossen wird.
Obwohl die große Zeltwiese fast leer ist, weist mir die Dame an der Rezeption eine Parzelle zu. Acht £ und 400 m später stellt sich heraus, dass es eine von zwei Parzellen ist, die bereits belegt sind. Egal, ich baue mein Zelt einfach dort auf, wo es mir am besten gefällt.
Während ich das Zelt aufstelle, höre ich bereits den ersten Donner und kurz darauf geht ein 1A Wolkenbruch nieder. Ich werfe den Tankrucksack und die rote Tasche ins Zelt, lege den blutigen Beutel mit dem aufgetauten Fleisch in die Apsis und mache das Zelt von innen zu. Jetzt kann ich im Trockenen weitermachen, während draußen solange die Welt untergeht. Ich lege die Therm-A-Rest zurecht, schüttele den Daunenschlafsack auf und lege das kleine Reisekopfkissen an seinen Platz.
Das Lager sieht bei diesem Wetter besonders einladend aus und ich lege mich kurz darauf, um zu testen, ob die Isomatte genügend Luft hat und der Schlafsack wirklich so kuschelig ist, wie er aussieht. Innerhalb von Sekunden bin ich fest eingeschlafen.
Eine Stunde später wache ich auf und strecke mich. Oh, ist das gemütlich im Zelt. Es regnet nicht mehr und ich öffne das Innenzelt, um durch das kleine Lüftungsdreieck einen Blick nach draußen zu werfen.
Während ich schlief hat irgendein Blödmann seinen Müll vor mein Zelt geschmissen. Da liegt jetzt eine alte Plastiktüte. So eine durchsichtige auf der mit rotem Filzstift was draufgeschrieben steht: STEAKS. Ist ja witzig. In genau so einer sind auch meine Steaks…
Irgend jemand hat mein schönes Venison geklaut, während ich geschlafen habe. Die Tüte lag nur 80 cm von meinem Kopf entfernt sicher in der Apsis verstaut. Von außen war die nicht zu sehen. Alle fünf Scheiben sind spurlos verschwunden, die Tüte leer. Ich bin ratlos, wer hat mein Fleisch geklaut?
Diesen Kriminalfall werde ich heute nicht mehr lösen. Viel wichtiger ist, dass ich mir jetzt sofort frisches Fleisch besorge. Ich ziehe meine Motorradjacke an, setze den Helm auf und fahre nach Peebles hinein. Ganz in der Nähe entdecke ich einen großen TESCO Supermarkt, stelle das Motorrad ab und stapfe entschlossen zur Fleischabteilung. Ich bin nicht gerade in Partylaune.
Für das entgangene Venison belohne ich mich mit zwei besonders fetten Scheiben RibEye Steaks.
Als Pieps und ich eine Stunde später vorm Zelt sitzen und auf die Steaks in der Pfanne glotzen, ist alles schon wieder in Ordnung.
Trotzdem frage ich mich, wer das königliche Wildbret geklaut hat.
Pieps kann es übrigens nicht gewesen sein, die hat noch fester geschlafen als ich. Ob man uns von Balmoral gefolgt ist...?