Was ist nur los mit mir? Vor ein paar Tagen hat mich ganz unvermittelt eine so tiefe Traurigkeit überfallen, dass ich wie unter Schock stand und es mich regelrecht erschreckt hat.
Seitdem sitze ich zuhause in meiner hübschen Wohnung. Die Kaffeemaschine läuft, Kerzen brennen und im Hintergrund läuft leise Klassikradio. Aber nicht einmal Pachelbels Kanon in D-Dur kann mich heute aufheitern.
Ich muss auf der Stelle etwas unternehmen, sonst versinke ich immer tiefer in dieser blöden Traurigkeit. Aus der Vergangenheit weiß ich, dass Hausarbeit, oder die Gesellschaft fremder Menschen mich schnell ablenken können. Heute müssen es Menschen sein und in der
Vergangenheit haben sich besonders jene bewährt, die sich in Schuhgeschäften aufhalten.
Bevor ich losfahre, rufe ich Claudia an, ob sie Lust hat, mitzukommen. Ich muss sie nicht lange überzeugen und kurz darauf sind wir gemeinsam unterwegs nach Raisdorf. Claudia kennt mich schon viele Jahre und merkt sofort, dass es mir nicht gut geht. Mit einem Gefühl, als sei mein Hund gestorben, lenke ich den kleinen Seat schweigend durch den Kieler Stadtverkehr.
Wenige Minuten später stelle ich das Auto im magischen Schuhdreieck zwischen Deichmann, Shoe-for-You und dem Hess-Schuhmarkt ab und betrete zum ersten Mal ein Schuhgeschäft ohne mein
breites Grinsen voller Vorfreude auf die schönste Nebensächlichkeit der Welt.
Mit Trauermine schreite ich im ZickZack an sämtlichen Schuhregalen vorbei, ohne eines auszulassen. Außer den Birkenstocks und Turnschuhen natürlich. Die gülden nicht als Schuhe und turnen will ich auch nicht. Ich bin so traurig, dass mir heute gar nichts gefallen kann und ich nicht einmal etwas anprobiere.
Im Geschäft nebenan suche ich ohne echtes Interesse nach einer dünnen Fleecejacke für meine
Motorradtour im Sommer. Die Jacke soll klein genug sein, um noch in meine
Gepäckrolle zu passen und pink genug, dass ich sie auch leiden mag. „Die Pinke gibt es nur noch in M“, informiert mich eine nette Verkäuferin. „Ja.“, denke ich. „Und zwar in M für Hamster.“, denn ich komme nicht einmal mit dem Unterarm in den Jackenärmel hinein. Ich ärgere mich darüber, dass ich nichts Passendes finde und das ist gut so, denn alles ist besser als diese Traurigkeit. Ärger tut gut. Er überlagert dumpfe Gedanken und frisst Traurigkeit.
Den Hess-Schuhmarkt betrete ich ohne große Erwartungen. Hier gucke ich schon seit Jahren immer wieder, aber die Schuhe waren mir meistens einen Tick zu langweilig und altbacken. "Sowas kann ich noch tragen, wenn ich
30 bin.", denke ich, aber vielleicht ergattere ich wenigstens eine hübsche Strumpfhose im Angebot.
Freudlos und ohne echtes Interesse schreite ich die endlosen Reihen von Schuhen entlang. Trotzdem sind meine Gedanken jetzt nicht mehr ganz so trübe, wie noch vor Stunden. Die Ablenkung tut mir gut. "Claudie, guck mal!", rufe ich plötzlich laut durch den Laden und bin selbst erstaunt über die Freude in meiner Stimme: "Eine ganze Abteilung mit Sonderangeboten von Akira und Buffalo Girl."
Buffalos sind meine absoluten Lieblingsschuhe, aber entweder sind sie zu teuer, oder zu klein. Meistens beides. Bei Buffalo ist 41 mehr eine Idee, als eine Größenangabe.
Ohne große Hoffnung probiere ich ein paar wunderschöne Slouchstiefel aus schwarzem Wildleder an. Es ist das letzte Paar und außerdem um die Hälfte reduziert. Ich wollte zwar keine Stiefel mehr kaufen, aber dies ist ein Notfall und da kann ich mich nicht von Grundsätzen gängeln lassen. Die Stiefel passen wie angegossen und ich nehme sie.
Gerade als ich meine Beute glücklich zur Kasse tragen will, entdecke ich die schwarzen Buffalo Stiefel, die ich schon seit Monaten gesucht habe. Es sind flache Overknees aus schwarzem Wildleder mit einem Futter aus hellem Kuschelfell. Die Stiefel sind handschuhweich und wie für mich gemacht. Ich nehme sie.
Die kleine Freude hat mit einem Schlag den Kokon aus Traurigkeit, Trübsinn und Grübelei durchbrochen und innerhalb von Minuten meine Laune deutlich aufgehellt. Ich kann das Dunkle im Hinterkopf noch spüren, aber im Moment hat es keine Macht mehr über mich und glücklich tänzele ich ein paar Schritte vor dem Spiegel umher, wie ich das gerne tue, wenn ich gute Laune habe. Claudia freut sich mit mir, aber am meisten wohl darüber, dass ich endlich einmal wieder gelacht habe.
Dreimal muss ich den Weg zur Kasse proben, bis Claudia endlich
das richtige Foto im Kasten hat, weil andauernd irgendwelche mies gelaunten Landeier durchs Bild wanken. Nächstes Mal nehme ich eine Rolle Absperrband mit und werde auch die Angestellten briefen, damit sie nicht so unintelligent in die Kamera glotzen, wenn wir unsere Fotosession machen.
Einem freudlos dreinblickenden Mitfünfziger, der meinetwegen kurz warten muss, schenke ich ein Lächeln, mit dem ich normalerweise Krokusse unter 10 cm Eis hervorlocken kann, aber er starrt nur stumpf zurück. "Merkwürdig.", denke ich, "Licht ist an, aber keiner zuhause." Wie kann jemand an einem so schönen Tag nur dermaßen miese Laune haben? Ich verstehe solche Typen einfach nicht.
Fazit: Mir geht es gerade nicht so gut. Ich hatte einen furchtbaren Flashback* und bin deshalb traurig und deprimiert, aber ich tue selbst etwas dafür, damit es mir bald wieder besser geht. Schuhe kaufen ist ganz sicher kein Mittel gegen tiefe Traurigkeit, aber mir hat es heute geholfen. Mit Claudia habe ich noch lange drüber diskutiert, wie es möglich ist, dass etwas Belangloses eine so starke Wirkung haben konnte. Das kann unmöglich wegen irgendwelcher Schuhe sein. Ist es vielleicht das Erfolgserlebnis? Das Gefühl, etwas gewonnen und fette Beute gemacht zu haben? Mir ist darauf keine Antwort eingefallen. Aber auch wenn so ein Flashback vielleicht schlecht für die Seele ist, für unsere Wirtschaft ist er ein Segen.
*Flashback: Das psychologische Phänomen, wenn durch einen Schlüsselreiz eine ganz starke Erinnerung ausgelöst wird und man vergangene Gefühle noch einmal intensiv neu durchlebt und durchleidet.
siehe:
Wikipedia, Flashback, psychologisch