Als ich nach neun Stunden Schlaf ausgeruht aus dem Bett hüpfe, ist es draußen noch immer grau, windig und regnerisch. Ich schalte den kleinen Hotelfernseher ein und ein fröhlich grinsender Schlipsträger stellt ergiebige Regenfälle von bis zu 200 l/m² in Aussicht. Eine Besserung sei nicht in Sicht.Inzwischen ist mein Kampfgeist geweckt. Ich werde diesen Urlaub genießen, selbst wenn mir dabei Schwimmhäute wachsen sollten und ich in dieser blöden Regenkombi übernachten muss.
In allerbester Morgenlaune gehe ich hinunter in den Frühstücksraum. Alles ist sehr schick eingedeckt und mit einer doppelten Portion Ambiente versehen. Eine doppelte Portion Pfälzer Leberwurst wäre mir allerdings lieber, denn das Angebot kann sich bei weitem nicht mit dem an der Mosel und in Höxter messen, obwohl es hier deutlich teurer ist.
Bevor ich abfahre, beherzige ich einen Trick, den Claudia mir am Telefon gesagt hat, als ich sie am Vorabend weinerlich angerufen habe: Ich ziehe Plastiktüten über die Socken bevor ich meine Stiefel anziehe. Ein genialer Trick, der sich in der Folgezeit noch einige Male bewähren soll. Plastiktüten sind nämlich wirklich dicht, was man von Membranen nicht sagen kann.
Besser als Goretex: Eine Plastiktüte über den SockenAn diesem Morgen kann ich es kaum erwarten, endlich auf dem Motorrad zu sitzen, denn es sind nur noch wenige Kilometer bis zur Grenze. Bereits nach einer halben Stunde stehe ich unter dem großen blauen Frankreich Schild und mache ein Foto mit Selbstauslöser. Wie gut, dass ich den kleinen Erbsensack als Stativ dabei habe.

Mein erster Halt ist Chateau Fleckenstein, das direkt an der deutsch-französischen Grenze liegt. Die Zufahrt zur Burg ist leider gesperrt und ich mag das Motorrad mit dem Gepäck nicht unten auf dem Waldparkplatz stehenlassen. Trotzdem ist es ein tolles Gefühl, hier zu sein.
Ich stehe an diesem regnerischen Montagmorgen im tiefen Wald der Nordvogesen. Ich bin ganz allein. Kein anderer Mensch, kein Auto ist in der Nähe. Ich höre den leichten Nieselregen und ab und zu das Zischen, wenn ein Tropfen auf den heißen Auspuff der Kawa fällt. Ein unglaublich tolles, intensives Gefühl: Ich bin am Leben und ich fühle mich so jung und so stark und grenzenlos frei. Ich bin glücklich.
Die kleinen französischen Dörfer durch die ich fahre, sind wirklich schön. Mir fehlt das richtige Wort. Sagt man pittoresk? Die Ortsdurchfahrten sind meistens Zone 30 und die französischen Autofahrer sind erstaunlich diszipliniert. Frankreich ist eben nicht Paris.
An einer Baustellenampel sehe ich etwas, das ich aus Deutschland nicht kenne: Eine große Digitalanzeige, auf der die Sekunden heruntergezählt werden, bis es endlich grün wird. Coole Idee und ich stelle den Motor ab, während ich geduldig auf grün warte.

Inzwischen ist der Regen stärker geworden und als ich kurz hinter Le Struthof über den
Champ du Feu fahre, hängen die Wolken so tief, dass ich auf der Kawa mitten durch sie hindurch fahre.
Alles trieft und tropft vor Nässe. Ich fahre dicht eingepackt in meinem Kokon aus Thermounterwäsche, Büffellederhose, Goretexjacke und über allem meine wind- und wasserdichte Regenkombi dahin. Ich fühle mich darin ein wenig abgekoppelt von der Welt, aber ein Thermometer zeigt im Vorbeifahren nur 9° C an. Nicht zu warm für einen 30. August.
Der Weg durch die tiefen Buchen- und Eichenwälder im Naturpark der Nord Vogesen ist sehr einsam und nur ganz selten begegnet mir ein Auto und wenn, dann ist es immer ein französisches Modell.
Die kleine
Kawasaki läuft wie ein Uhrwerk und ich tue alles, um ihr das Leben so leicht wie möglich zu machen. Inzwischen knackt es in meinen Ohren, wenn wir die langen Steigungen der Col de la Irgendwas hinaufklettern und dann talabwärts plötzlich dieses überraschende Gefühl, wenn die Ohren wieder aufgehen und ich alles ganz genau und fast überdeutlich hören kann.
Ich habe Hunger bekommen und halte nach einem Imbiss Ausschau, aber so etwas gibt es in den kleinen Ortschaften nicht. Die Franzosen sind
keine Fast-Food Freaks. Als ich aber durch die kleine 4000 Einwohner Stadt Ingwiller fahre, sehe ich einen Supermarche und halte an.

Das Einkaufen ist beim Alleinreisen immer ein wenig tricky, schließlich kann man das Gepäck nicht mit hineinnehmen. Doch ich mache es so, wie ich das immer tue: Ich parke die cow direkt vorm Eingang und lasse auch den Helm und die Handschuhe am Motorrad, nur den Zündschlüssel ziehe ich diesmal ab und gehe in den Markt.
An der Kasse kann ich zum ersten Mal meine neuen
Französischkenntnisse ausprobieren. "Bonjour", "merci" und "au revoir" kommen mühelos über meine Lippen und beinahe hätte ich noch ein launiges "Ma moto a une crevaison" hinterhergeschoben, aber mein Motorrad hat ja zum Glück gar keinen Platten und ich will auch nicht angeben.
Mit etwas französischem Räucherspeck und einer Flasche Contrex kehre ich kurz darauf zurück zu meinem Motorrad und natürlich ist alles noch da. Beinahe hätte ich das teure Wasser von Evian gekauft, aber habt ihr das Wort mal rückwärts gelesen? Ich bin doch nicht dämlich...
Als ich aus Ingwiller herausfahre, muss ich einen Blick auf die Karte werfen und stoppe neben einer kleinen, heruntergekommenen Plattenbausiedlung, die ich hier nicht erwartet hätte. Aus den Augenwinkeln heraus bemerke ich, dass einige Menschen mich neugierig beäugen und langsam auf mich zukommen. Wenn ich sie aus meiner Erfahrung heraus richtig beurteile, dann sind es
Roma, die hier unter wenig erfreulichen Bedingungen wohnen. Die Situation ist mir nicht ganz geheuer und ich fahre eilig weiter.
Am frühen Nachmittag erreiche ich
Sainte Marie aux Mines. Hier beginnt die
Route de Crêtes und deshalb bin ich hier. Für den Einstieg in die Route ist es heute aber schon zu spät und außerdem tut mir nach sieben Stunden Fahrt der Dubs weh. Vielleicht habe ich morgen auch mehr Glück mit dem Wetter, denn die sagenhafte Kurvenstrecke der Route de Crêtes möchte ich gerne bei trockenem Asphalt und ohne meine dicke Regenkombi fahren.

Den Gedanken an eine Übernachtung im Zelt habe ich längst aufgegeben und so suche ich mir in Sainte Marie aux Mines ein Zimmer für die Nacht. Direkt am Ortseingang liegt das kleine Hôtel Restaurant du Tunnel, das schon von außen sehr einladend aussieht.
Ich stelle die cow auf der Straße vorm Eingang ab und stapfe als unförmiges Michelinmädchen hinein. Die Gaststube ist so früh am Tag noch leer, aber die kleinen Tische sind bereits alle liebevoll eingedeckt. Hinter einem hohen Tresen, der mit allerlei Kuchen und Gerichten vollgestellt ist, die ich nicht kenne, steht der Wirt. Ein typischer kleiner Franzose mittleren Alters mit ernstem Gesicht, der genauso aussieht, wie ich ihn mir in meiner Fantasie vorgestellt habe.
Ich bin ein wenig aufgeregt, denn jetzt kommt es auf meine neu erworbenen Sprachkenntnisse an. Mit englisch oder deutsch will ich gar nicht erst anfangen und so stottere ich mir ein "Il coute combien la chambre?" ab. Die Antwort verstehe ich schon nicht mehr und der Wirt erlöst mich schließlich mit einem ernst vorgetragenen: "Auf deutsch bitte?"
Ich erfahre, dass ein Zimmer 40 Euro pro Nacht kostet, doch auf meine Frage, ob das mit Frühstück sei, ernte ich ein sehr deutliches "Non." und einen leicht entrüsteten Blick. Später erfahre ich von anderen Bikern, dass man hier schwerlich ein Zimmer unterhalb von 50 Euro findet.
Über eine knarrende Holztreppe führt Patrick, der Wirt, mich hoch auf mein Zimmer. Das alte Buntbartschloss wird mit einem riesigen, langen Schlüssel geöffnet. Das Zimmer ist total strange und völlig anders eingerichtet, als ich das bisher kennengelernt habe. Die Möbel haben bereits bessere Tage gesehen, aber das Zimmer hat Charme und auf eine merkwürdige Weise auch Stil. Ich fühle mich darin auf Anhieb wohl und lege mich auch gleich auf das große französische Bett, um ein wenig auszuruhen.
Erschöpft, glücklich und ungeschminkt im Hotel du Tunnel
Meine Stiefel stopfe ich wie an den Abenden zuvor mit Toilettenpapier aus und hänge meine Handschuhe über die Nachttischlampe zum Trocknen. Ich bin deutlich erschöpfter, als an den Abenden zuvor und muss mich richtig dazu aufraffen, mich zum Essen umzuziehen. Wie immer, wenn ich ein bisschen aufgeregt bin, schminke ich mich noch sorgfältiger als sonst und gucke tausendmal, ob das Kleid auch richtig sitzt.
Schließlich nehme ich mein Herz in beide Hände, greife mir Pieps und das Reisetagebuch und gehe hinunter ins Restaurant. Alle Tische bis auf einen sind noch leer. Daran sitzen der Wirt mit seiner Frau und Albert, dem Koch. Die beiden sprechen es "Ahlbääähr" aus und es klingt wunderschön in meinen Ohren. Diese Sprache muss ich unbedingt lernen. Sie klingt wie Musik.
Ich bin unsicher, wohin ich mich setzen soll und während ich mich noch suchend umsehe, lädt mich die Wirtin ein, mit der Familie am Tisch zu sitzen. Sie spricht auch etwas deutsch und ich schäme mich, nur so wenig Französisch zu können. Ich nehme das Angebot gerne an und sitze glücklich mit den Wirtsleuten am Tisch, die sich ein wenig von meiner Reise erzählen lassen. Die Wirtin ist ganz erstaunt darüber, dass eine Frau alleine eine solche Reise unternimmt.
Statt einer Speisenkarte sagt mir die Wirtin geduldig alle Gerichte auf. Ich höre nur "vom Kalb dies" und "Filet von das" und ahne bereits, dass meine Reisekasse das nicht gut vertragen wird. Schüchtern äußere ich den Wunsch, lieber etwas vom Schwein zu essen. "Vom Schwein?", fragt die Wirtin ratlos, aber bevor ich noch einen Rückzieher machen kann, springt mir Albert, der Koch, hilfreich bei. Er könne mir ein Kotelett braten vom Schwein mit einer Sauce von Gorgonzola an eine gemischte Gemüse mit Pommes Frites.
So wie er das sagt, klingt es unwiderstehlich und ich nehme begeistert an. In der Zwischenzeit bestelle ich einen Steinkrug mit kaltem Wein und fange an, diese Zeilen mit Bleistift in mein Reisetagebuch zu schreiben. Das alte Moleskine ist schon fast voll und bereits etwas abgegriffen. Für die nächste Reise werde ich wohl ein Neues kaufen müssen.
Svenja am Stammtisch im Hotel du Tunnel in Saint Marie aux Mines
Es dauert lange, bis das Essen kommt, aber dann ist es eine Offenbarung, so aromatisch würzig ist die Käsesauce. Und sogar die Pommes Frites schmecken lecker. Sie werden nur mit Salz serviert, ohne das ekelige rote Würzstreu, das sie in deutschen Imbissbuden so gerne drüberkippen. Und mein Kotelett hat einen schönen dicken Fettrand und ist so schmackhaft, dass ich sogar verzeihe, dass es allein gekommen ist. Französisches Essen ist lecker, aber ich bin ein großes Mädchen und an deutlich größere Portionen gewöhnt. Ich bin kurz davor, die Serviette mitzuessen.
Während ich mit der Familie am Tisch sitze, läuft im Hintergrund ein kleiner Fernseher, der für morgen das Ende der Regenzeit verkündet. Und die Frage nach meinem Passing? Daran habe ich schon gar nicht mehr gedacht. Auf trans ist heute sicher niemand gekommen. Ich bin lediglich eine etwas zu groß geratene Frau in einem etwas zu kurzen Kleid, die auf ihrer kleinen, grünen MotoCross Maschine durch Frankreich fährt. Was könnte schöner sein?